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Der Rosenkreuzer-Weg zur Selbstverwirklichung

Losgelöst von der Geschichte der rosenkreuzerischen Organisationen ist mitunter die Tendenz zu beobachten, das Rosenkreuzertum als Aufgabe und Ausdruck einer inneren Entwicklung zu verstehen.

Ein Beispiel dafür liefert der bereits im Zusammenhang mit der Neugeist-Bewegung genannte Autor esoterischer Bücher Karl-Otto Schmidt mit seinem Buch ,Der Rosenkreuzer-Weg zur Selbstverwirklichung; sei du selbst!"1 Schmidt versteht das Rosenkreuzertum als einen Weg zur ,Selbstwerdung und Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit", wie ihn alle Lichtsucher und Lichtfinder zu gehen bestrebt waren,

,einerlei ob sie als Mystiker oder Gnostiker, als Pansophen oder Theosophen, als Pythagoreer oder Illuminaten, als Esoteriker oder Rosenkreuzer wirkten. Immer ging und geht es um den Weg in den eigenen Seelengrund - ohne Bindung an Menschen und Systeme, Gemeinschaften oder Satzungen, Initiatoren oder Adepten."2

Dieser Weg ist ein Weg der stufenweisen Selbsteinweihung und des ,höchsten Selbstseins unter Leitung des inneren Meisters - des göttlichen Selbst". Es geht dabei nicht um okkulte, magische Fähigkeiten und Kräfte, sondern ,allein um den königlichen Weg der Selbstdurchlichtung, Erleuchtung und Vollendung." Als Ziel seines Buches gibt Schmidt an, diesen ,Lichtpfad" mit Worten von Rosenkreuzern in seinen einzelnen Etappen so weit aufzuzeigen, ,daß jeder feststellen kann, wie weit er auf ihm gelangt ist."3 Der mit ,Geschichte der Rosenkreuzer" überschriebene Abschnitt ist enttäuschend, denn über die historischen Wurzeln des Rosenkreuzertums erfährt der interessierte Leser an dieser Stelle nichts. Die Zurückhaltung erklärt sich aus Schmidts grundlegendem Verständnis des Rosenkreuzertums:

,Das echte Rosenkreuzertum ist zeitlos; und wichtig ist für uns Heutige nur, daß wir uns vom Geist des Rosenkreuzes erfüllen lassen, um zur Auto-Initiation, zur Selbsteinweihung zu gelangen."4

Auf dem Weg zur Selbsteinweihung gibt es Vorbilder, die auf ihm schon weiter fortgeschritten sind und anderen darum Anleitung und Hilfe geben können. Diese bezeichnet Schmidt als ,Rosenkreuzer heute". Zu ihnen zählt er neben Johannes Fernando Finck, Franz Hartmann und Christian Morgenstern, die nur kurz erwähnt werden, vor allem Lord Edward Bulwer-Lytton, den englischen geistlichen Dichter Thomas Traherne (1637-1674), Max Heindel, G. W. Surya, den österreichischen Dichter und berühmten esoterischen Schriftsteller Gustav Meyrink (1868-1932), den Schriftsteller Friedrich Lienhard (1865-1929), Rudolf Steiner sowie den nur mit Pseudonym vorgestellten ,Fra Tiberianus", der ein Schüler des Rabbi Löw und Freund Gustav Meyrinks gewesen sein soll. Diesen Persönlichkeiten widmet Schmidt ausführliche Beschreibungen ihres Wirkens, bevor er sein eigenes Konzept für einen ,Stufenweg zum Licht"5 vorstellt.

Als ein System zur Selbsteinweihung wird das Rosenkreuzertum auch in dem von Paul Foster Case (1884-1954) begründeten und von Ann Davies weitergeführten Orden der , Builders of the Adytum " (B.O.T.A.)6 verstanden. Case, der sich seit seinem 16. Lebensjahr mit dem Tarot beschäftigt hatte, war einige Zeit Mitglied des Hermetic Order of the Golden Dawn und dessen ,General Premonstrator" in den USA und Kanada. 1927 wurden seine Untersuchungen zum Rosenkreuzertum erstmalig veröffentlicht, scheinen jedoch nur einem kleinen Kreis zugänglich gewesen zu sein.7 Erst 1985 erschien sein Werk in redigierter Form unter dem Titel , The True And Invisible Rosicrucian Order. An Interpretation of the Rosicrucian Allegory and An Explanation of the Ten Rosicrucian Grades ".8

In seinem über 300 Seiten zählendem Buch äußert sich Case im ersten Teil (,The Rosicrucian Allegory") umfassend über das Rosenkreuzertum und vertritt dabei die Meinung, die Bruderschaft der Rosenkreuzer sei keine organisierte Gesellschaft wie etwa die der Freimaurer, in die man eintreten und Zeremonien abhalten könne. Rosenkreuzertum ist für ihn vielmehr , a state of mind. One becomes a Rosicrucian: one does not join the Rosicrucians ."9 Scharf widerspricht er jedoch der Meinung, der Rosenkreuzerorden sei unsichtbar, weil er aus nicht inkarnierten Geistwesenheiten bestehe. Der Orden besteht nicht aus Supermenschen, die verschiedene höhere Sphären bewohnen, sondern aus normalen Männern und Frauen. Er ist unsichtbar, weil er keine externe Organisation besitzt und niemand mit gewöhnlichen Augen in den Geist eines Menschen sehen kann, um die Kennzeichen eines wahren Rosenkreuzers dort zu erblicken. Case ist hier konsequent und verneint darum jegliches Auftreten ,echter" Rosenkreuzerorganisationen in der Geschichte. Wahres Rosenkreuzertum bedeutet für ihn immer einen inneren Zustand im Menschen. Von dieser Position aus interpretiert er die rosenkreuzerischen Manifeste ausführlich als eine ,rosicrucian Allegory", wie es bereits der Untertitel seines Werkes ankündigte. Scheinbar mit einer Handbewegung kann Case 300 Jahre Geschichte der Rosenkreuzerbewegung wegwischen und wieder unmittelbar10 bei Fama und Confessio fraternitatis ansetzen, deren Texte in englischer Übersetzung mit abgedruckt sind.

Der zweite Teil des Buches läßt die biographische Verbindung Cases mit dem Hermetic Order of the Golden Dawn deutlich werden und beinhaltet eine Interpretation der ,Ten Rosicrucian Grades" (wie sie im Golden Dawn erteilt wurden) in Verbindung mit den 10 Sephiroth des kabbalistischen Lebensbaumes und den Karten des (Rider-Waite-) Tarot. Die Entsprechung der 10 göttlichen Emanationen zu einem Bild der menschlichen geistigen Evolution ist in dem , Pattern on the Trestleboard " ausgedrückt, das Case von einem geistigen Lehrer empfangen haben soll.11

The Pattern on the Trestleboard. This Is Truth About The Self

0. All the Power that ever was or will be is here now.

1. I am a center of expression for the Primal Will-to-Good which eternally creates and sustains the Universe.

2. Through me its unfailing Wisdom takes form in thought and word.

3. Filled with Understanding of its perfect law, I am guided, moment by moment, along the path of liberation.

4. From the exhaustless riches of its Limitless Substance, I draw all things needful, both spiritual and material.

5. I recognize the manifestation of the Undeviating Justice in all the circumstances of my life.

6. In all things, great and small, I see the Beauty of the Divine Expression.

7. Living from that Will, supported by its unfailing Wisdom and Understanding, mine is the Victorious Life.

8. I look forward with confidence to the perfect realization of the Eternal Splendor of the Limitless Light.

9. In thought and word and deed, I rest my life, from day to day, upon the sure Foundation of Eternal Being.

10. The Kingdom of Spirit is embodied in my flesh.

Mit den Ansichten von Paul Foster Case verwandt sind die Auffassungen von Hans-Dieter Leuenberger, die er in seinem Buch ,Sieben Säulen der Esoterik. Grundwissen für Suchende" vorgetragen hat. Das Buch, das sich als eine Einführung in die Esoterik versteht, behandelt als ,Säulen" der Esoterik die Themen Initiation, Tradition, Menschlichkeit, Göttlichkeit, Magie, Reinkarnation und Rosenkreuz. Leuenberger vergleicht das esoterische Urwissen mit einem unterirdischen Strom, der von Zeit zu Zeit an die Oberfläche dringt und sieht als ersten Versuch eines solchen Auftauchens den Orden der Tempelritter im 12. Jahrhundert. Der zweite Versuch sei dann das Auftreten der Rosenkreuzer durch die Manifeste im 17. Jahrhundert gewesen. Als den dritten Versuch sieht er das Wirken von Helena Petrowna Blavatsky und die Gründung der Theosophischen Gesellschaft sowie den 13 Jahre später in England entstandenen Hermetic Order of the Golden Dawn.12 Nach einer knappen, aber vergleichsweise präzisen Beschreibung der Frühgeschichte der Rosenkreuzerbewegung13 und der wissenschaftlichen Forschungsbemühungen um die Manifeste und ihre Absichten schildert Leuenberger seine persönliche Auffassung, nach der esoterische Schriften - und als solche sieht er die Rosenkreuzermanifeste an - nicht mit Methoden der Literaturwissenschaft erfaßt werden können, da eine höhere Ebene daran beteiligt ist.14 Er ist der Meinung, daß ,die Gedanken und Ideen, die sich hinter den niedergeschriebenen Worten [der Manifeste] offenbaren, [...] mit Sicherheit die Kenntnisse und das Format von protestantischen Theologiestudenten des 17. Jahrhunderts" übersteigen, und führt weiter aus:

,Andreae selbst ist an dieser Spannung menschlich zerbrochen. Vielleicht war er ein Berufener, der die Auserwählung zurückwies. Wenn man in seiner Jugend die Fackel der erhellenden Erkenntnis entzünden hilft und dann, statt sich von ihrem Licht erleuchten zu lassen, Superintendent und Hofprediger in Stuttgart wird, muß man zwangsläufig in Unglück und Verbitterung enden."15

Diese Einschätzung wird kaum die Zustimmung kirchengeschichtlicher Forscher finden und zeigt, daß für Leuenberger Superintendent und Hofprediger offenbar sehr elende Berufe sind. Die Vorstellung vom hinter den Texten liegenden esoterischen Sinn ermöglicht es Leuenberger, an zahlreichen Stellen der Manifeste esoterische Wahrheiten ausgedrückt zu finden. Daß es sich dabei um allegorische Deutungen handelt, liegt auf der Hand. In den ,Visionen" der Confessio16 findet er z. B. bei dem Wunsch nach langem Leben das Gesetz der Reinkarnation ausgedrückt (obwohl von Wiederholungen überhaupt nicht die Rede ist), oder in dem Wunsch nach einem allwissenden Buch einen Verweis auf das Tarot.17 Die Fama Fraternitatis hingegen versteht Leuenberger als ,die genaue Darstellung einer menschlichen spirituellen Entwicklung, wie sie gerade auch in östlichen, dem Himalajagebiet entstammenden Schriften immer wieder behandelt wird." Die Reisebeschreibung enthalte möglicherweise ,sogar die einzelnen Stationen, die bis zur Erweckung der Kundalinikraft durchlaufen werden müssen."18 Die Buchstaben C. R. hält Leuenberger (wie der AMORC) nicht für die Abkürzung von Christian Rosenkreuz, sondern sieht in ihnen das Christusprinzip ausgedrückt, das er als ,Ganzwerdung als Ausdruck des göttlichen Willens und deren Verkörperung in der Materie" zusammenfaßt.19 Die Kirche habe die Energie des Christusprinzips in das Bild des gekreuzigten Jesus von Nazareth projiziert. Eine andere Möglichkeit sei das Bild des Kreuzes mit der Rose, wodurch sich der Akzent von Leiden und Opfer hin zu Verwandlung und alchemischer Transmutation verschiebt. Als einziges Buch, das den Gehalt der Rosenkreuzerschriften ,in der hier geschilderten Weise und mit außergewöhnlicher Tiefe darstellt" nennt Leuenberger Paul Foster Cases zuvor besprochenes , True and Invisible Rosicrucian Order ". Esoterik im Zeichen des Rosenkreuzes ist nach Leuenberger ,die wirkliche Generalreformation, die den ganzen Menschen erfaßt und umfaßt, ist die Rückbesinnung auf das Urwissen und seine Anwendung in einer Welt, die vom Tod bedroht wird."20

Das so verstande Rosenkreuzertum als System und Anleitung zur esoterischen Selbsteinweihung und Selbstverwirklichung benötigt keine organisatorische Struktur eines Ordens mehr. Die Loslösung von der ,Bindung an Menschen und Systeme, Gemeinschaften oder Satzungen", wie es K. O. Schmidt formulierte,21 ist Ausdruck eines gewandelten Lebensgefühls, das viele Bereiche umfaßt und mit dem Stichwort ,Individualisierungsschub" umschrieben wird. Allgemein haben die großen Institutionen gegenwärtig mit Akzeptanzproblemen und Imageverlusten zu kämpfen, das betrifft die konfessionellen Großkirchen ebenso wie etwa politische Parteien oder Sportverbände. Diese Entwicklung macht auch vor dem Rosenkreuzertum nicht halt. Geschlossene Orden sind für viele Menschen nicht sehr attraktiv. Dennoch zeigen etliche für das Rosenkreuzertum als Vermittlungsinstanz von esoterischen Lehrinhalten Interesse. Die Aufnahme esoterischer Elemente, die im Laufe der Zeit dem Rosenkreuzertum zugewachsen und mit ihm verschmolzen sind, sowie deren Verbindung mit jeweils individuellen Glaubens- und Vorstellungswelten wird angesichts der anhaltenden Popularität esoterischer Vorstellungen sicher noch zunehmen. Ob die allgemeine Kenntnis der mit diesen Inhalten verbundenen traditionsgeschichtlichen Wurzeln damit ebenfalls zunimmt, erscheint hingegen - auch angesichts des hier erhobenen Befundes - zweifelhaft.


1. 2. Aufl., Ergolding 1990. Die erste Auflage erschien 1976 unter dem Titel ,Sei du selbst - der Rosenkreuzer-Weg zur Selbstverwirklichung.

2. Schmidt: Rosenkreuzerweg, 10.

3. Schmidt: Rosenkreuzerweg, 10.

4. Schmidt: Rosenkreuzerweg, 11.

5. Schmidt: Rosenkreuzerweg, 69 ff.

6. Zu näheren Informationen über diese Gemeinschaft vgl. die B.O.T.A.-Homepage auf http://www.bota.org (28.9.2000).

7. Vgl. Leuenberger, Hans-Dieter: Sieben Säulen der Esoterik. Grundwissen für Suchende, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1990, 224.

8. York Beach, Maine; Nachfolgend zit. nach der 4. Auflage von 1997. Andere Werke von Case über mystische und esoterische Themen sind , The Tarot, a key to the wisdom of the ages", ,The magical language", ,The book of tokens", ,The great seal of the United States", ,The masonic letter G", ,The name of names ".

9. Case: Rosicrucian Order, 5.

10. Völlig unmittelbar ist Cases Zugriff auf die Manifeste freilich nicht, denn er steht in der Tradition des Hermetic Order of the Golden Dawn und ist damit doch wieder mit anderen vorangegangenen Interpretationen des rosenkreuzerischen Mythos verbunden.

11. Case: Rosicrucian Order, 158.

12. Leuenberger: Sieben Säulen, 208.

13. Wie Case unterscheidet Leuenberger genau zwischen den Manifesten als literarischem Ursprung des Rosenkreuzertums und der Tradition der weiteren Rosenkreuzerbewegung. Letztere erscheint für ihn weitestgehend uninteressant, da sie ,außer dem Namen nichts mit den alten echten Rosenkreuzern gemeinsam" haben (209).

14. Es handelt sich sozusagen um eine esoterische Variante der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn der biblischen Texte.

15. Leuenberger: Sieben Säulen, 211.

16. Confessio, 61 (Ausgabe R. v. Dülmen 35), Vgl. im Buch, S. 28.

17. Leuenberger: Sieben Säulen, 212 f.

18. Leuenberger: Sieben Säulen, 217.

19. Leuenberger: Sieben Säulen, 219.

20. Leuenberger: Sieben Säulen, 225.

21. Schmidt: Rosenkreuzerweg, 10.


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