Logo Neue Rosenkreuzer - Die Website zum Buch Impressum

Neubelebung in Frankreich

Übersicht:


In seiner Anfangszeit hatte das Rosenkreuzertum in Frankreich keine besondere Rolle gespielt. Dies sollte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend ändern. Mit Eliphas Lévi und Papus stammten zwei der führenden Vertreter des magisch orientierten Okkultismus aus Frankreich, und eben diese Kreise bildeten die Heimstatt für eine Neuaufnahme rosenkreuzerischen Traditionsgutes. Auch hier ging die geistesgeschichtliche Wirkung dieser Neubildungen weit über den doch sehr begrenzten Kreis ihrer unmittelbaren Mitglieder hinaus. Groß waren diese Gruppen alle nicht - was aber angesichts der Struktur von Geheimgesellschaften, die sich mit Magie befassen, nicht verwundern sollte. Auffällig ist die vielfältige Verflechtung der verschiedenen Gruppen untereinander, wobei nicht selten die höchsten Ämter organisatorisch verschiedener Orden in Personalunion von den gleichen Person wahrgenommen werden - ein Umstand, der nicht unbedingt zur Übersichtlichkeit beiträgt.

Vorgeschichte: Die älteren Martinisten

Den Boden und die organisatorische Form für die Neuaufnahme rosenkreuzerischen Traditionsgutes bereiteten bereits im 18. Jahrhundert neben verschiedenen anderen freimaurerisch-esoterischen Organisationen vor allem die Martinisten.

Das Wirken der sogenannten ,älteren" Martinisten in Frankreich fällt in dieselbe Zeit wie das Auftreten der templerischen Freimaurerei der Strikten Observanz und des Klerikats sowie des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer in Deutschland. Ihren Namen haben die Martinisten ursprünglich nicht von Louis Claude de Saint-Martin (1743-1803), wie aufgrund des Namens und der exponierten Stellung von Saint-Martin innerhalb der Martinisten mitunter angenommen wird, sondern von dem älteren Martinez de Pasqually (1727-1774).1 Dieser hatte 1754 den Ritus der Erwählten Priester, der ,Elus Coëns"2 begründet. Die Angehörigen dieses freimaurerischen Hochgradsystems verstanden sich als Nachfolger des Aaronitischen Priestertums, die dadurch ,nicht nur über die Weihegewalt eines wahren Priesters, der allein zu segnen und zu opfern vermag" verfügen, sondern ,darüber hinaus in die Mysterien der Beziehung zu Gott und zu seiner Schöpfung eingeweiht" sind.3 Das System umfaßte drei Klassen mit neun Graden und eine vierte Klasse mit einem Sondergrad.4 Die Lehren waren an alttestamentlichen Stoffen ausgerichtet, die aber in magisch-esoterischen Zusammenhängen gesehen wurden. So beachtete man z. B. in der dritten Klasse bestimmte levitische Gebote und bemühte sich zugleich, durch magische Zeremonien, die sogenannten ,Operationen", ,die Mächte der Finsternis zu vertreiben, die in die irdischen Bereiche eingedrungen waren".5 Den Inhabern des höchsten, des Réau-Croix-Grades war es vorbehalten, vermittels magischer Evokationen den Kontakt zu den höchsten Geistwesen herzustellen. Zentrales Thema der Lehre ist die Wiederherstellung des gefallenen Menschen: ,Der aus der lichten und guten Schöpfung stammende, in die Finsternis und ins Verderben gestürzte Mensch soll und kann durch spirituelle, ja durch bestimmte magisch-theurgische Aktivitäten in seinen ursprünglichen Zusammenhang zurückgeführt werden (Reintegration)."6

Louis Claude des Saint-Martin war 1768 mit Martinez de Pasqually zusammengetroffen und daraufhin in dessen Orden der Elus Coëns aufgenommen worden. Sein Erstlingswerk ,Des Erreurs et de la Vérité"7 ließ Saint-Martin 1775 unter dem Pseudonym ,Philosophe Inconnu" erscheinen. Diese Selbstbezeichnung erinnert nicht zu unrecht an die ,Unbekannten Oberen" der Gold- und Rosenkreuzer, denn sicher ist sie von der Mitgliedschaft Saint-Martins bei der ,Société Supérieurs Inconnus" beeinflußt. Von dieser Organisation heißt es, daß ihre Statuten mit denen des Prager Zirkels der Gold- und Rosenkreuzer ,weitgehend identisch" gewesen seien.8 In der Tat deutet vieles auf eine enge Verflechtung der verschiedenen Geheimgesellschaften ähnlicher Prägung untereinander hin. Saint-Martin wird 1771 der Sekretär de Pasquallys und wird in dieser Eigenschaft zum Reorganisator der Elus Coëns. Anfangs eifriger Schüler Pasquallys, vertritt er später zunehmend eine eigene Richtung. In den Vorstellungen Saint-Martins spielen weniger organisierte Logenstrukturen und magische Evokationen, sondern vielmehr die Theosophie Jakob Böhmes eine gewichtige Rolle. Darin liegt eine besondere Leistung Saint-Martins. Er hat die Lehren Jakob Böhmes in Straßburg kennengelernt und seitdem intensiv aufgenommen. Durch seine Vermittlung und seine Bemühungen um die Übersetzung der Werke Böhmes in das Französische wurde der Görlitzer Schuster in Frankreich populär. Die Bedeutung, die Böhme für Saint-Martin gewonnen hatte, läßt sich der Äußerung in einem Brief vom 28. September 1792 entnehmen:

,Ich bin in einer fast völligen geistigen Vereinsamung, aber Freund Jakob Böhme und unsere Heilige Schrift sind mir Stütze und Trost. Es ist eine Gnade der Vorsehung, die mich Jakob Böhme hat kennenlernen lassen, bevor ich in die Verbannung beschlossen wurde, in der ich heute bin."9

Die jüngeren Martinisten

Louis Claude de Saint-Martin hat nachweislich keine organisierte Anhängerschaft hinterlassen. Er hatte ,das Logenwesen stets nur als etwas äußerliches betrachtet, dem ein tieferer Gehalt gegeben werden müßte" und seinen Freund Jean Baptist Willermoz10 um 1790 gebeten, seinen Namen aus den freimaurerischen Listen zu streichen, um künftig ,das Göttliche nur noch ganz allein im Grunde seines Herzens suchen zu können".

Diese Tatsache konnte jedoch nicht verhindern, daß im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene esoterische Organisationen Saint-Martin benutzten, um ihren eigenen Anspruch auf eine authentische Organisation durch eine kunstvoll gestaltete, bis auf Saint-Martin zurückgeführte Sukzessionskette zu untermauern. Interessant und bezeichnend ist dabei, daß zwei verschiedene Sukzessionsketten angeführt werden, die den 1891 gegründeten Ordre Martiniste mit der Tradition der älteren Martinisten verbinden sollen:

 

Louis Claude des Saint Martin

 

Comte de Chanteloup,

 

Jean Antoine Chaptal (17?-1832),

 

Henri Delaage (1825-1882)

 

Gérard Encausse (Papus) (1865-1916)

Abbé de Lanoue

André Chénier

Joseph Antoine Hennéquin

Henri de la Touche

Antoine Desmarolles

Comte d'Authencourt

Amélie de Boisse-Mortemart

Pierre Augustin Chaboseau

Areopag Cabalistique

 

1891: Ordre Martiniste

Am Ende dieser Sukzesssionskette stehen der Dr. Gérard Encausse, der 1882 in die Geheimnisse des Martinismus eingeweiht worden sein soll,11 und der Bibliothekar des Musée Guimet, Augustin Chaboseau.

Gérard Anaclet Vincent Encausse (1865-1916), besser bekannt unter seinem Pseudonym Papus, zählt mit zu den bedeutendsten Esoterikern Frankreichs.12 Er wurde am 13. Juli 1865 in Coronga in Spanien als Sohn eines französischen Vaters und einer spanischen Mutter geboren. Bereits auf dem Collège Rollin, das Encausse in Paris besuchte, gründete er seine erste Geheimgesellschaft und die okkulte Zeitschrift , Traité méthodique de science occulte ".13 Er war ein großer Verehrer von Eliphas Lévi, an den er auch 1886 einen Brief geschrieben hatte. Da Lévi jedoch zu diesem Zeitpunkt schon 11 Jahre tot war, kann man Encausse wohl kaum als einen Schüler Lévis bezeichnen.14 1894 promovierte Encausse an der Pariser Universität zum Doktor der Medizin. Sein Pseudonym stammt aus Lévis Übersetzung des dem Apollonius von Tyana zugeschriebenen Nyktemeron, in dem ,Papus" der Name des ersten Geistes der ersten Stunde und zugleich der Geist der medizinischen Wissenschaften ist. Seit 1882 beschäftigte Encausse sich mit magischen Studien, insbesondere mit den Schriften des Alchemisten und Freundes von Eliphas Lévi, Louis Lucas, dem er seine Schrift ,L'Occultisme Contemporain" von 1887 widmete. Encausse gehörte auch zu den ersten Mitgliedern der 1887 gegründeten der Theosophischen Gesellschaft in Frankreich, aus der er jedoch 1890 wieder austrat. Seitdem arbeitete er auch als Schriftleiter der von ihm gegründeten Wochenschrift , Le Vile d'Isis ". Am 25. März 1895 wurde er Mitglied in Mathers' Ahathoor-Tempel des Hermetic Order of the Golden Dawn in Paris, blieb jedoch auch dort nicht lange Mitglied.

Pierre Augustin Chaboseau (1868-1946) hatte wie Papus Medizin studiert und interessierte sich sehr für die älteren Martinisten. Bereits 1886 (d. h. mit 18 Jahren!) soll er seine Einweihung durch Amélie de Boisse-Mortemart empfangen haben. Über den gemeinsamen Freund P. Gaëtan Leymarie, dem Herausgeber der Zeitschrift , La Revue Spirite " trafen die beiden 1888 zusammen und begründeten noch im selben Jahr den ,Ordre Martiniste". Mit der Aufnahme neuer Mitglieder entstand im Jahr 1891 ,Le Suprême Conseil de L'Ordre Martiniste". Zu ihm gehörten Gèrard Encausse (Papus), Albert Faucheux (François-Charles Barlet), Lucien Mauchel (Chamuel), Jaques Burget, Yvon Leloup (Paul Sédir), Augustin Chaboseau, Paul Adam, Maurice Barrès, Julien Lejay, Joséphin Péladan, Georges Montières und Stanislas de Guaita.15

Für die Ausbreitung des Martinismus sorgte auch der große Pariser Kongreß , Spirite et Spiritualiste International " vom September 1889. In seiner Folge sollen sich 27 Martinistenlogen in Frankreich, 33 in Deutschland, 36 in Amerika und 9 in Schweden etabliert haben. Die weitere zum Teil sehr verworrene Geschichte des Martinistenordens und seiner zahlreichen Filiationen kann hier nicht mehr im Detail verfolgt werden, handelt es sich doch dabei in der Regel um keine Rosenkreuzergruppen. Es seien lediglich die Namen der aus diesen Anfängen hervorgegangenen Organisationen genannt, um einen Eindruck von dem breiten Spektrum des gegenwärtigen Martinismus zu vermitteln:16

Die Martinisten pflegen meist gute Kontakte zum freimaurerischen System von Memphis-Misraim und z. T. zu anderen Rosenkreuzerorganisationen. Doppelmitgliedschaften stellen die Regel und nicht die Ausnahme dar.

Parallel zur Neubegründung des Martinistenordens, ähnlich strukturiert und in enger personeller Verflechtung mit ihm standen weitere Ordensgründungen, die nun im Zeichen des Rosenkreuzes standen, allen voran der Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix.

Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix

1888, im selben Jahr, in dem in London der Hermetic Order of the Golden Dawn entstand, Helena Petrowna Blavatsky ihre ,Geheimlehre" veröffentlichte, die Esoterische Sektion der Theosophischen Gesellschaft eingerichtet wurde, Papus und Chaboseau den Martinistenorden begründeten und Nietzsche seinen ,Antichrist" vollendete, wurde in Paris der Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix gegründet. Seine geistigen Führer waren der Marquis Stanislas de Guaita und Joséphin Péladan.

Stanislas de Guaita (1861-1897) stammte aus einem lombardischen Adelsgeschlecht, das sich um 1800 in Alleville in Lorraine niedergelassen hatte, wo er am 6. April 1861 geboren wurde. Seine Ausbildung erhielt er an Jesuitenschulen in Dijon und Nancy. In Paris traf er mit Maurice Barrès zusammen, der später ein berühmter Schriftsteller und Politiker wurde. Möglicherweise durch ihn veranlaßt, entdeckte de Guaita sein dichterisches Talent. 1881 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband , Oiseaux de Passage ". Später folgten , La Muse Noire " (1883) und ,Rosa Mystica" (1885). Der mit ihm befreundete Schriftsteller Catulle Mendès führte ihn über die Beschäftigung mit den Werken Eliphas Lévis zum Okkultismus. Dies änderte sein Leben nachhaltig. Er stürzte sich voll in die Erforschung dieser ihm bis dahin völlig unbekannten Gebiete. An einen Freund schrieb de Guaita, daß er alles gelesen habe, was über die okkulten Wissenschaften geschrieben wurde.17 Durch eine Leserzuschrift über den ersten Band , Le Vice Suprême " von , La Décadence Latine " geriet er mit dessen Autor, Joséphin Péladan, in Kontakt. Aus dem Briefwechsel entwickelte sich eine Schülerschaft und schließlich eine Freundschaft. Gemeinsam mit Péladan begründete er dann 1888 den Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix.

Mitglied in diesem Orden waren viele, die in der okkulten Szene Frankreichs Rang und Namen hatten. Zu ihnen gehörten neben de Guaita und Péladan der bereits erwähnte Arzt Gérard Encausse (alias Papus), der Astrologe und Alchemist Albert Faucheaux (1838-1921) (alias François-Charles Barlet), der Schriftsteller Paul Adam (1862-1920), Dr. Emanuel Lalande (1868-1926) (alias Marc Haven), Yvon Leloup (1871-1926) (alias Paul Sédir), Charles Meligne (alias Abbé Alta) und Pierre Augustin Chaboseau. Auch der spätere Gründer und Imperator des AMORC, H. Spencer Lewis, soll dem Orden angehört haben. Es fällt auf, daß die hier genannten Personen zum größten Teil identisch mit dem Suprême Conseil des Martinistenordens sind, was die enge Verflechtung dieser beiden Gesellschaften deutlich macht.

Der Orden wurde von einem obersten Rat geleitet, an dessen Spitze de Guaita stand, und zu dem neben 6 ,sichtbaren" noch 6 ,unsichtbare" Mitglieder gehört haben sollen - eine Reminiszenz an die ,Unbekannten Oberen" der Strikten Observanz und der Gold- und Rosenkreuzer. Es wurden drei Grade18 erteilt, die in ihren Bezeichnungen universitäre Abschlüsse nachahmen und jeweils mit Prüfungen verbunden waren:

1) Baccalaureus,

2) Licenciat,

3) Doktor der Kabbala.

Inhalte der ersten Prüfung waren die Geschichte der westlichen esoterischen Tradition mit speziellem Gewicht auf dem Rosenkreuzertum sowie die Symbolik der hebräischen Buchstaben. Die zweite Prüfung befaßte sich - neben weiteren hebräischen Themen - mit der allgemeinen Geschichte der religiösen Tradition und einer geglaubten Einheit hinter aller Symbolik.19 Die kabbalistische Symbolik mit den hebräischen Buchstaben des Gottesnamens ist auch in dem Rosenkreuz, das das Symbol des Ordens bildet, deutlich zu erkennen.

Die intensive Beschäftigung mit der okkulten Tradition und den Werken von Eliphas Lévi brachten Stanislas de Guaita auch mit der schwarzen Magie in Berührung. In seinen zwischen 1890 und 1896 herausgegebenen , Essais de sciences maudites " befaßte er sich mit Themen wie ,Der Tempel des Satan; Der Schlüssel zur schwarzen Magie" und ,Das Problem des Bösen". Darin rechtfertigt er die schwarze Magie und erklärt den Sinn des Bösen durch das Gesetz der Gegensätze.20 1896 veröffentlichte er , La clef de la magie noire ". Frick bezeichnet ihn als ,Satanist und Paganist".21 Stanislas de Guaita konnte auf eine längere Tradition des Satanismus in Frankreich zurückblicken. Die ungebrochene Dominanz der katholischen Kirche in Frankreich hat offenbar stärker als in anderen europäischen Ländern im Gegenzug eine untergründige Tradition des Satanismus mit sich gebracht.22 So wird bereits aus der Zeit Ludwigs XIV. von satanistischen Messen berichtet, durch die die Mätresse des Königs sich seine Gunst erringen wollte.23

Der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans beschrieb in seinem Roman Là-bas (Paris 1891), dessen Handlung in der detaillierten Schilderung einer orgiastischen schwarzen Messe gipfelt, diesen religiösen Untergrund, den er selbst intensiv erforscht hat. ,Huysmans war zutiefst fasziniert vom Satanismus. Zahlreiche Okkultisten, Spiritisten und Schwarzmagier, deren Bücher er las oder mit denen er in persönlichen Kontakt trat, führten ihn ins dunkle Reich ,dort unten`, wo der Teufel in obszönen und blutrünstigen Messfeiern verehrt wird."24 Im Zusammenhang mit der Suche nach Material für seinen Roman traf er 1890 mit dem zwielichtigen exkommunizierten Priester Joseph-Antoine Boullan (1824-1893) zusammen, der in Lyon sowohl Exorzismen betrieb, als auch selbst schwarze Messen las. Huysmans berichtet in einem Brief über einen ,okkulten Kampf" Boullans gegen ,seinen Widersacher Stanislas de Guaita" und ,dessen Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix", den er selbst in Boullans Haus miterlebte:

,Bei Boullan herrscht der reinste Wahnsinn. Aus Paris traf ein Brief von den Okkultisten ein, der uns zur Todesstrafe verurteilte - und die Schlacht sollte drei Tage dauern. Es war Wagram im Leeren! - Angetan mit geistlichen Gewändern, Hostien in der Hand, rang Boullan seine Feinde nieder, unterstützt von einer hellseherischen Schlafwandlerin und Mutter Thibaut - und von mir! Ich hatte besorgt zu sein, dass der Feind die kleine Laura (die Schlafwandlerin) nicht in einen kataleptischen Zustand zu versetzen mochte. Es war so richtig schön! - doch man sah nichts - ausser ab und zu die berühmten (dämonenbesessenen?) Sperber, welche sich an die Fenster heranmachen, die aber Pater Misme während des Kampfes überwachte."25

Die satanische Ausrichtung de Guaitas, aber auch zunehmende indische Einflüsse im Orden, die durch die französische Theosophische Gesellschaft vermittelt wurden,26 entzweite ihn mit seinem einstigen Lehrer und Mitstreiter Joséphin Péladan, der seine esoterischen Interessen mehr mit einer katholischen Frömmigkeit verband. Bereits im Juni 1890 kam es zu einer großen Spaltung und Péladan verließ mit einigen Anhängern den Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix und begründet den ,Ordre de la Rose Croix Catholique, du Temple et du Graal".

Stanislas de Guaita reagierte sehr gereizt auf die Abspaltung und die ungeliebte Konkurrenz im Anspruch der Nachfolge des echten Rosenkreuzertums. Er forderte dazu auf, den Schülern des Okkultismus bekannt zu machen, daß die Lehren Péladans das Gegenteil aller rosenkreuzerischen Tradition darstellen würden. Er könne nichts mit den von Péladan verübten Akten des Wahnsinns unter dem Zeichen des Rosenkreuzes zu tun haben. Angesichts dieser feindlichen Stimmung waren auch Péladans Vermittlungsversuche fruchtlos. Es blieb dabei, de Guaita betrachtete ihn als einen schismatischen und abtrünnigen Rosenkreuzer.27 Die Glanzzeit der Anfangsjahre des Ordens war vorüber. Einer der bedeutenden Mitglieder, Paul Sédir, schrieb 1910 in seiner Histoire des Rose-Croix , daß die meisten Gelehrten, die den Glanz des Ordens ausgemacht hätten, nach und nach verschwunden seien und nur noch Schüler, die zwar aufrichtig, aber zu begierig nach Titeln, Pergamenten und Phänomen seien, ihren Platz eingenommen hätten.28

Am 19. Dezember 1897 starb Stanislas de Guaita im Alter von nur 37 Jahren. Sein geistiges Erbe wurde von seinem Sekretär, Oswald Wirth, bewahrt.29 Die Großmeister des Ordens in der Nachfolge von de Guaita waren:

François-Charles Barlet (Albert Faucheaux)

Gérard Encausse (Papus)

Charles Henri Detre (Teder) (1855-1918)

Eine weitere Spaltung erfolgte u. a. aufgrund einer Kontroverse über die Anforderungen der maurerischen Zugehörigkeit. Demzufolge existieren zwei Nachfolgelinien.

Lucien Mauchel (Sar Chamuel) (?-1936)

Victor Blanchard (Sar Yesir) (?-1939)

Pierre Augustin Chaboseau (?-1946)

Georges Lagreze (?-1954?)

Robert Ambelain (?-1994)

Jean Bricaud (1881-1934)

Constant Martin Chevillon (1880-1944)

Charles-Henry Dupont (1877-1961)

Philippe Encausse (1906-1984)

Es fällt auf, daß sich am Ende dieser Entwicklung die gleichen Personen als Großmeister beider Zweige gegenüberstehen, die auch die 1962 wiedervereinigten Zweige des Martinistenordens repräsentierten. Vieles deutet darauf hin, daß auch diese beiden Zweige sich wieder vereinigten. Der gegenwärtige (1999) Großmeister des Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix, Gerard Kloppel, ist der Nachfolger von Robert Ambelain.30 Der Orden kooperiert mit einigen Graden mit dem freimaurerischen Hochgradsystem des Ritus von Memphis-Mizraim und dem Martinistenorden. Einige Rosenkreuzerorganisationen Amerikas leiten ihre Autorität vom Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix her - unter ihnen die gegenwärtig weltweit mitgliederstärkste Organisation, der AMORC.31

Ordre de la Rose Croix Catholique, du Temple et du Graal

Der Ordre de la Rose Croix Catholique, du Temple et du Graal ist aus der von Joséphin Péladan geführten Spaltung des Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix im Juni 1890 hervorgegangen.

Joséphin Péladan (1858-1918) stammte aus einer traditionell katholischen Familie aus Lyon. Sein Vater war Lehrer und Herausgeber einer katholischen und monarchistischen Zeitschrift und versuchte z. B. einen Kult um die (hypothetische) 6. Wunde Jesu zu initiieren. Über seinen älteren Bruder Adrian, der als Homöopath,32 Kabbalist und Orientalist tätig war, gewann er Interesse für mystische Themen. Adrian vermachte Joséphin eine große hermetische Bibliothek33 und soll auch Kontakt zu einer um 1850 von dem Arzt und Alchemisten Vicomte de Lapasse in Toulouse begründeten Rosenkreuzergesellschaft gehabt haben und 1858 dort eingeweiht worden sein.34 Es ist notwendig, auf diese legendäre Gesellschaft noch etwas ausführlicher einzugehen, denn auf sie berufen sich eine ganze Reihe von Rosenkreuzerorganisationen in ihren Sukzessionslinien - unter ihnen auch der AMORC.35

Der Burggraf Louis Charles Edouard de Lapasse (1792-1867) stammte aus einem spanischen Adelsgeschlecht und hatte in Toulouse Jura studiert. Verschiedene Reisen hatten ihn nach Deutschland (Hannover, 1818), in die Schweiz (Bern) und nach Italien geführt. Dort kam er in Kontakt mit der Heilkunde und betrieb zwischen 1825-1830 umfangreiche Studien in alten Bibliotheken auf der Suche nach alten geheimen medizinischen Informationen. In diese Zeit fällt sein Kontakt mit einem gewissen Prinz Balbiani, der ein Gefährte von Guiseppe Balsamo alias Cagliostro gewesen sein soll. Balbiani führte Lapasse in die okkulte und hermetische Philosophie ein. Firmin Boissin (Pseudonym: Simon Brugal), ist neben Lapasse und Adrian Péladan die dritte namentlich bekannte Gestalt, die zu den Toulouser Rosenkreuzern gehört haben soll. Ihm zufolge war Prinz Balbiani ,Rosenkreuzer". Was ist damit gemeint? In Italien ist ein ,Prinz Balbiani" unter den adligen Familien unbekannt. Darum vermutet Roggemans, daß ,Prinz" hier einen esoterischen Titel darstellt, nämlich den des 18. Grades ,Souveräner Prinz vom Rosenkreuz" der freimaurerischen Hochgradsysteme - eine Vermutung, die auch der Bezug zu dem Hochgradfreimaurer Cagliostro nahelegt. Ob die Toulouser Gesellschaft nun in Wirklichkeit eine 18°-Freimaurerloge war, oder ob Lapasse lediglich durch seine Bekanntschaften inspiriert wurde, sich mit der Rosenkreuzerthematik zu befassen, muß offen bleiben.36 Darüber hinaus ist es fraglich, ob überhaupt eine derartige Gesellschaft bestanden hat, sind doch die Quellen dafür recht dürftig und stammen im wesentlichen von Personen, die selbst in diese Sukzessionslinie involviert sind.37 Man wird als glaubwürdigen Kern festhalten können, daß der an medizinischen wie esoterischen Themen interessierte Burggraf de Lapasse um 1858 mit dem an ebensolchen Dingen interessierten Adrian Péladan zusammengetroffen ist und Joséphin Péladan auf diesem Wege die Anregung zur Beschäftigung mit dem Rosenkreuzertum erhielt. Alles weitere ist reine Spekulation.

Joséphin Péladan wird als eine eindrückliche Gestalt beschrieben. Wildes ungebändigtes schwarzes Haar umrahmte seinen Kopf mit den tiefblickenden Augen und er liebte es, in verschiedenen Kostümierungen durch die Cafés am Montmartre zu parodieren. Verstärkt wurde der äußere Eindruck durch die Titel, die er sich zulegte. Mit ihm begann der Brauch innerhalb des französischen okkulten Rosenkreuzertums, sich in Anlehnung an die assyrischen Königstitel ,Sar" (=Zar) zu nennen. Péladan kombinierte dies mit dem Jupiter entsprechenden babylonischen Gott Marduk und nannte sich Sar Mérodack Péladan.38

Mit der Gründung des Ordre de la Rose Croix Catholique verband er die Hoffnung, Rosenkreuzertum und katholische Kirche verbinden und die esoterische Tradition unter dem Dach der Kirche pflegen zu können. In der Kirche sah er die führende gesellschaftliche Kraft gegen den wachsenden Materialismus, Deismus und Atheismus, wenn sie auf die verborgene esoterische Weisheit in ihr achtet.39 Der Orden erteilte drei Grade ( Ecuyer, Chevalier, Commandeur ). Zu den Versammlungen traf man sich in Péladans Wohnung. Die Amtsträger erschienen in Mönchskutten mit einem Rosenkreuz.40

Im Übrigen war sein Orden jedoch keine abgeschlossene esoterische Gesellschaft, die sich allein der spirituellen Ausbildung ihrer Mitglieder gewidmet hätte. Vielmehr gingen von Péladan und seinen Aktivitäten vielfältige Impulse und Einflüsse auf die zeitgenössische Kultur und Kunst aus. Dieser Orden war in erster Linie eine künstlerische Bewegung, und in dieser Richtung war seine Version des Rosenkreuzertums sehr erfolgreich.

So organisierte Péladan mehrere Ausstellungen in dem sogenannten ,Salon rose+croix". Die erste Ausstellung im März 1892 war ein großer Erfolg. Der Salon wurde zu einem bekannten Treffpunkt von Künstlern und Schriftstellern. Die Besucher dieses Salons, unter ihnen Gary de Lacroze, die Grafen Léonce de Lamandie und Antoine de La Rochefoucauld, Elémir Bourges, Jules Bois, Erik Satie und Saint-Pol-Roux, haben ,einen kulturell nicht unbedeutenden Einfluß auf den französischen Ästhetizismus am Ausgang des 19. Jahrhunderts besessen."41

Seine Vorstellungen brachte Péladan auch auf der Bühne unter dem Zeichen des Rosenkreuzes vor. Er betätigte sich als Intendant, Direktor und nicht zuletzt Autor verschiedener Bühnenwerke, die er als Théatre de la Rose-Croix in der Pariser Comédie Française 1893 zur Aufführung brachte. Dazu zählen Stücke wie Prométhée, Oedipe et Sphinx, Orphée, La Rose-Croix, Les Argonautes und Le Mystère du Graal .

Als Musiker war er ein großer Anhänger von Wagner und hat sicher viel zu Wagners Popularität in Frankreich beigetragen.42 Er begründete ein Rosenkreuzer-Orchester, für das der Komponist Erik Satie einige Stücke schrieb.

Vielleicht kann man es auch als Ausdruck einer überspannten Künstlernatur beurteilen, daß er am 14. Mai 1890 im Namen der Rosenkreuzer verlangt haben soll, die Öffentlichkeit und der Kardinalerzbischof von Paris sollten sich ihm unterwerfen. Der Höhepunkt seiner Karriere war damit offenbar überschritten. Er starb ziemlich unbeachtet am 21. Januar 1918.43 Nach seinem Tod wurde der Orden in veränderter Form durch Emile Dantinne (Sar Hiéronymous) weitergeführt.

 


1. Zur Vermeidung dieses Mißverständnisses wird mitunter versucht, die ältere Richtung des Martinez de Pasqually als ,Martinezismus" zu bezeichnen und somit vom ,älteren Martinismus" des Saint-Martin und dem neueren ,jüngeren Martinismus" zu unterscheiden (z. B. bei Frick). Diese Terminologie hat sich jedoch noch nicht allgemein durchgesetzt.

2. Französisiert vom hebr. cohen (Priester).

3. Wehr, Gerhard: Saint-Martin, Freiburg i. Br. 1980, 17.

4. I (symbolisch): Lehrling, Geselle, Meister; Zwischengrad: Groß-Auserwählter; II (Vorhof): Erwählter Priester-Lehrling, -Geselle, -Meister; III (Tempelgrade): Großmeister/Großarchitekt erwählter Priester, Ritter/Kommandeur vom Orient, Großerwählter von Zorobabel; IV: Réau-Croix-Grad (nach Frick: Die Erleuchteten, 524).

5. Frick: Die Erleuchteten, 525.

6. Wehr: Saint-Martin, 19.

7. Die deutsche Übersetzung ,Wahrheit und Irrtum" besorgte Matthias Claudius (1740-1815), der von Saint-Martin begeistert war, bereits 1782.

8. Frick: Die Erleuchteten, 605, ausführlich dazu 606. Die Insignien S. I., gedeutet als Supérieur Inconnu traten ab 1768 vereinzelt auch als Titelbezeichnungen bei den Mitgliedern des Tribunal Souveraign der Elus Coën auf (ebd., 520).

9. Die Rede von der ,Verbannung" bezieht sich auf seine Abgeschiedenheit vom kulturell-geistigen Leben während seines Aufenthaltes in Amboise. Zit. n. Wehr: Saint-Martin, 29.

10. Jean Baptist Willermoz (1730-1824) war auch ein bedeutender Freimaurer und am Hochgradsystem der ,Wohltätigen Ritter der Heiligen Stadt" (Chevalier Bienfaisant de la Cité Sainte, abgek. C.B.C.S.) beteiligt. Vgl. dazu Le Forestier, René: Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, Zweites Buch: Die Wohltätigen Ritter der Heiligen Stadt, Leimen 1989.

11. Miers hält diese Behauptung ,für eine Ordenslegende", die zum ,Zwecke der Filiation erfunden worden ist", weil sich in Papus' umfangreichen Werk keinerlei Hinweise darauf finden lassen (Lexikon, 471 f.).

12. Eine Biographie stammt von seinem Sohn, Dr. Philippe Encausse: Papus, sa vie, son oeuvre, Paris 1932, korrigierte Ausgabe 1949 (zit. n. Miers: Lexikon 472).

13. Frick: Licht und Finsternis, Bd. 2, 408.

14. Auf diesen Umstand hat Miers hingewiesen (Lexikon, 471 und öfter).

15. Marcel Roggemans: Supreme Conseil de L'Ordre Martiniste (http://www.geocities.com/Athens/Thebes/6370/mart2.htm; 4.5.1999)

16. Liste nach Roggemans: a. a. O.

17. Oswald Wirth: Stanislas de Guaita. Souvenirs de son Secrétaire , Paris 1935, zit. n. McIntosh: The Rosicrucians, 93.

18. Frater Melchior berichtet von einem weiteren geheimen 4. Grad (Modern Rosicrucian Groups, http://www.levity.com/alchemy/rosi_grp.html; 28.4.1999)

19. McIntosh: The Rosicrucians, 95.

20. Wissende, Eingeweihte und Verschwiegene. Esoterik im Abendland, Zürich 1986, 42.

21. Frick: Licht und Finsternis, Bd. 2, 391.

22. Damit ist ein Satanismus im engeren Sinn gemeint, der seinen Kult direkt im Gegensatz zur Kirche entwikkelt und bewußt die kirchliche Teufelsfigur (,Satan") zu seinem Anbetungsobjekt erwählt hat.

23. Vgl. Frick, Karl Hermann: Die Satanisten, Graz 1985 (Satan und die Satanisten; 2), 121-130.

24. Wissende, Eingeweihte und Verschwiegene, 40.

25. Brief von Huysmans an den befreundeten Pariser Buchhändler Gustave Boucher vom 19. August 1891, in: Wissende, Eingeweihte und Verschwiegene, 42.

26. so Frick: Licht und Finsternis, Bd. 2, 393.

27. McIntosh: The Rosicrucians, 95.

28. Wiedergegeben nach der englischen Übersetzung des Zitates bei F. Wittemans: A New and Authentic history of the rosicrucians , 149.

29. Vgl. Oswald Wirth: Stanislas de Guaita. Souvenirs de son Secrétaire, Paris 1935.

30. Frater Melchior: Modern Rosicrucian Groups (http://www.levity.com/alchemy/rosi_grp.html; 28.4.1999).

31. Vgl. S. 101 im Buch.

32. Er soll als einer der ersten französischen Homöopathen mit Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie, zusammengearbeitet haben.

33. Miers: Lexikon, 476.

34. So z. B. McIntosh: The Rosicrucians, 93 unter Verweis auf James Webb: The Flight from Reason, London 1971, 259.

35. Die folgenden Ausführungen verarbeiten die Forschungen von Marcel Roggemans: Les Rosicruciens de Toulouse (http://www.geocities.com/Athens/Thebes/6370/toulouse.htm; 4.5.1999).

36. Problematisch daran ist, daß nach Roggemans sowohl Brugal als auch Balbiani die Identität von Rosenkreuzertum und Freimaurerei bestritten haben sollen.

37. Hauptquelle ist das Buch des Nachfolgers von Joséphin Péladan: Emile Dantinne, L'oeuvre et la Pensée de Péladan - La Philosophie rosicrucienne , 1848. Die Verbindung mit Firmin Boissin (alias Simon Brugal) erfolgt über einen Nachruf von Joséphin Péladan, der ihn als , knighted as a Rose+Croix of the last branch of the Traditional Order " bezeichnet hat (zit. n. Roggemans, a. a. O.).

38. Bei dieser Auswahl soll auch der Name des Babylonischen Königs Merodach-Baladan aus Jes 39,1 wegen seiner Lautähnlichkeit eine Rolle gespielt haben. (McIntosh: The Rosicrucians, 93) Eine andere (wenn auch weniger überzeugende) Herleitung geht von der Abkürzung der Anrede , Son Altesse Royale " zu S.A.R. aus, die Péladan in einem Brief an den Prince de Courtenay gebraucht haben soll (http://www.geocities.com/Athens/Thebes/6370/peladan.htm; 4.5.1999).

39. Wittemans: History, 150.

40. McIntosh: The Rosicrucians, 95.

41. Frick: Licht und Finsternis, Bd. 2, 393.

42. McIntosh: The Rosicrucians, 96.

43. So Miers: Lexikon, 477.


Home | Das Buch | Die Quellen | Material | Diskussion