Über den Ursprung der Freimaurerei ist viel gerätselt worden.1 Die wahrscheinlichste Herleitung ist die von den Maurerzünften der mittelalterlichen Dombauhütten (Logen), die durch ihre besonderen Privilegien und das in ihnen gepflegte Geistesgut auch Anziehungskraft für Nichtmaurer besaßen. Letztere waren die sog. ,angenommenen Maurer", die bald den Anteil der ,Werkmaurer" in den Logen übertrafen. Als Geburtsstunde der Freimaurerei in ihrer gegenwärtigen Form gilt der am 24. Juni 1717 erfolgte Zusammenschluß von vier Londoner Logen zur ,Vereinigten Großloge von London", aus der später die Vereinigte Großloge von England hervorging. Die Freimaurerei breitete sich rasch aus, und über die Aufnahme vieler wichtiger Personen des öffentlichen Lebens gelang die Integration der Freimaurerei in führende gesellschaftliche Schichten. 1732 gehörten bereits 109 Logen zur Großloge.2
Immer wieder wurde eine enge Beziehung festgestellt und sogar die These von dem Hervorgehen der Freimaurerei aus dem Rosenkreuzertum vertreten. So gipfelt z. B. das fundierte Werk von Hans Schick in der Feststellung einer umfangreichen Entsprechung zwischen beiden Organisationen:
,Waren die Societas of Freemasons nichts anderes als Rosenkreuzer-Zirkel reinster Prägung, so hat selbst das spätere Englische Großlogensystem seine Ideologie, seine Arbeitsweise und seine Symbolik dem älteren Rosenkreuzertum entlehnt. Auch heute noch lebt das Rosenkreuzertum in der Freimaurerei fort, deren stärkste Wurzel und integrierender Bestandteil es ist."3
Belege für diese Auffassung sieht Schick in den personalen Verbindungen über den Einfluß der ,englischen Rosenkreuzer" Michael Maier, Robert Fludd und Elias Ashmole.4 Insbesondere in Fludds Werk findet er dem Freimaurertum vorgearbeitet, und aus dessen Äußerungen schließt er, ,daß im 17. Jahrhundert die Namen ,Freimaurer` und ,Rosenkreuzer` im Grunde dasselbe bezeichnen. Das Geheimnis der alten Freimaurer war dasjenige der Rosenkreuzer, nämlich die alte Weisheit von Adam her über Moses, Salomon, Christus, Johannes, durch welche das innerste Wesen der Natur erschlossen und das wahre göttliche Licht erblickt wurde, das Licht aus dem Orient."5 Auf der inhaltlichen Ebene findet er im Baugedanken und der freimaurerischen Symbolik rosenkreuzerisches Erbgut vertreten.6
Diese These ist nicht haltbar. (Warum? -> S. 45)
Es sei jedoch noch auf eine Verbindungslinie hingewiesen, die sich auf einer anderen Ebene befindet. Sie verbindet nicht die legendäre rosenkreuzerische Geheimgesellschaft mit der freimaurerischen Geheimgesellschaft, sondern die von der Fama intendierte Wissenschaftsbeförderung mit einer Wissenschaftsgesellschaft: der Royal Society. In der Fama wurde der Aufruf zu einer christlichen Reform der Wissenschaften unternommen. Um eine christliche Gesellschaft bemühte sich Andreae in seinem Versuch der Societas Christiana. Die Wissenschaftsgesellschaft stand noch aus. Als eine späte Frucht dieser Bemühungen kann die Gründung der Londoner Royal Society als Akademie der Wissenschaften verstanden werden. Beziehungen lassen sich zum einen in der Parallelität zu den Intentionen der Fama erkennen. Darüber hinaus ist unbestritten, daß Andreaes in Württemberg vergleichsweise wenig erfolgreichen Reformprojekte und sein vehementes Eintreten für eine moderne Naturwissenschaft im puritanischen England später wesentlich erfolgreicher waren.7 Eine direkte Abhängigkeit kann und soll damit nicht behauptet, jedoch auf geistige und wirkungsgeschichtliche Verbindungslininen hingewiesen werden. Die Royal Society hatte nicht den Anspruch, die Generalreformation fortzuführen. Sie war streng begrenzt auf ein einziges - wenn auch wesentliches - Ziel der Fama: den organisierten und institutionalisierten Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Darin kann man eine Einseitigkeit erblicken, aber gerade diese Konzentration bedeutete auch ihre Stärke. Sie hat ihr den Platz in der Wissenschaftsgeschichte erobert, den sie heute einnimmt und der der Fama Fraternitatis verwehrt blieb. Man kann also nicht sagen, daß die Freimaurerei mehr oder weniger direkt aus dem Rosenkreuzertum hervorgegangen und die Royal Society dann das Ergebnis dieser Symbiose sei. Dafür ist die Freimaurerei insgesamt viel zu unabhängig vom Rosenkreuzertum geblieben. Die Frage nach einer direkten organisatorischen Kontinuität zwischen Rosenkreuzertum und Freimaurerei muß verneint werden, ein umfangreiches Beziehungsgeflecht hat es hingegen gegeben und eine ideengeschichtliche Beeinflussung in gewissen Grenzen stattgefunden.
Im 18. Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus mit dem Titel ,Ritter vom Rosenkreuz" hatte sich die Erinnerung an das Rosenkreuzertum einen festen Platz gesichert.8 Dieser Grad war offenbar sehr begehrt. In den Jahren 1760 bis 1790 entstanden allein 18 Versionen und er soll für sich allein ebensooft bearbeitet worden sein, wie alle anderen Rittergrade zusammen.9 Betrachtet man den Inhalt des Rituals dieses Grades, so fällt auf, wie wenig er mit den Inhalten der rosenkreuzerischen Manifeste zu tun hat. Über die historischen Wurzeln des Rosenkreuzertums scheint in Frankreich, wo dieser Grad entstand, zu jener Zeit nicht viel bekannt gewesen zu sein. Aber das Wort ,Rosenkreuz" ,rief die Idee okkulter Kenntnisse wach, und der Nebel, der es umhüllte, ließ den Schöpfern dieses Hochgrades freie Hand."10 Dies nutzten sie offenbar reichlich aus und füllten den Grad mit einer magischen Christologie, die verschiedenen Elementen der freimaurerischen Hiram-Legende eine spezifisch christliche Interpretation gab.
,Alle Einzelheiten der Dekoration und des Rituals erinnerten an die Passion und Auferstehung Christi. Ein Transparent über dem Altar stellte die Kreuzigung dar. Die beiden Kreuze an den Seiten waren leer, das in der Mitte trug das Schild mit dem INRI, eine überhängende Stoffdekoration und eine Rose. Über der Kreuzesszene war ein Sarg abgebildet, dessen Dekkel beiseitegerückt war und aus dem die Ecke eines Lakens heraushing. Er war von den Schäften zerbrochener Säulen umgeben, auf denen schlafende römische Soldaten lagen. An den Wänden des Saales standen drei Säulen, welche die Namen der theologalen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) trugen. Das Abzeichen des Grades bestand aus einem Zirkel auf einem Viertelkreis. Aus diesem erhob sich zwischen den Armen des Zirkels ein Kreuz, das die Inschrift INRI trug und eine Rose."11
Die Kreuzestitulatur INRI wird im Ritual dieses Grades mit dem verlorenen Meisterwort der Hiram-Legende identifiziert und spielt auch bei dem von den Rittern des Rosenkreuzes viermal im Jahr gefeierten ,Dritten Punkt des Rosenkreuzes" eine Rolle, der ein sogenanntes ,Mystisches Mahl" darstellt.
,In der Mitte des Saales stellte man einen mit weißem Leinen bedeckten Tisch auf. Man stellte auf ihn ein Brot, einen Becher voll Wein und ein Papier mit der Aufschrift INRI. Alle Brüder, einen Stab in der Hand und angeführt vom Weisesten, umrundeten siebenmal den Raum. Bei jeder Umrundung deuteten sie einen Kniefall vor dem Osten an. Anschließend stellten sie sich unter strengstem Schweigen um den Tisch auf, an dessen Kopfende sich der Weiseste befand. Er nahm das Brot, brach ein Stück ab und ließ es von Hand zu Hand gehen, wobei jeder Bruder seinerseits einen Bissen abbrach. Als alle Anwesenden ihren Teil verspeist hatten, trank der Vorsteher einen Schluck Wein, reichte den Kelch dann dem Ersten Aufseher und sagte zu ihm, »Immanuel«, worauf dieser ihm »Pax vobis « antwortete. Mit denselben Zeremonien machte der Kelch dann die Runde. Als er wieder den Très Sage erreichte, drehte dieser ihn um, um zu zeigen, daß er leer war, setzte ihn auf den Tisch und legte darauf das Papier, das er anzündete. Als das Papier verbrannt war, machte er das Zeichen des Grades und sprach: » Et consummatum est .« Nachdem die Brüder das Zeichen wiederholt hatten, verließen sie schweigend den Saal."12
Die starken Anklänge dieses Rituals an das Abendmahl sind nicht zu übersehen. Die in einer seiner Fassungen zu findende Auflösung des INRI als , Igni Natura Renovatur Integra " läßt hingegen einen alchemistischen Hintergrund durchscheinen. So nimmt auch Le Forestier an, daß das Ritual ,andere Existenzgründe, als den Brüdern einen Religionsunterricht zu erteilen" habe, denn das ,Gedenken an den gekreuzigten, ins Grab gelegten und auferstandenen Christus war offensichtlich von der hermetischen Lehre angeregt, die in Passion, Grablegung und Auferstehung das transzendente Urbild des Großen Werkes sah".13
Bevor es im Rahmen der Freimaurerei zu einer eigenen rosenkreuzerischen Ordensgründung kam, die in starker Weise auch praktische Alchemie betrieb, war jedoch ein anderer Orden vordringliches Ziel maurerischer Identifikationsversuche: die Tempelritter. Schon Ramsay hatte 1737 in seiner Rede vor der Pariser Großloge die Freimaurerei auf die Kreuzritter zurückgeführt, die sich nach dem Verlust des Heiligen Landes vor allem auch in England und Schottland niedergelassen und dort die Freimaurerei gestiftet hätten. Diese Vorstellung fand ihre weitere Ausgestaltung in den Inhalten des schottischen Systems. Insbesondere der Orden der Templer mit seinem dramatischen Ende und den damit verknüpften Geheimnissen bot ein beliebtes Ziel der Legendenbildung. In besonders eindrücklicher Weise praktizierte dies der deutsche Freiherr Karl Gotthelf von Hund und Altengrottkau (1722-1776) mit seinem Orden der Tempelritter und dem System der Strikten Observanz, der ab dem Jahr 1742 immer mehr deutsche Freimaurerlogen für sich und sein System gewinnen konnte.14 Er hatte behauptet, von in Schottland überlebenden Tempelrittern eingeweiht und zum Heermeister für die VII. Ordensprovinz (d. i. Deutschland) ernannt worden zu sein. Zur Beglaubigung legte er ein gefälschtes Patent vor, das nach dem späteren Erweis seiner Unechtheit den Untergang der Strikten Observanz besiegelte. Zuvor jedoch erlebte diese Richtung in den Jahren 1763-1772 ihren Höhepunkt. Ihr gehörten zeitweise zwölf regierende Fürsten sowie ein großer Teil des Hochadels und der Beamtenschaft an. Die Verbreitung erstreckte sich nicht nur über ganz Deutschland, sondern bis zum Baltikum, nach Prag und Kopenhagen.15 Mit der Strikten Observanz verband sich 1772 das System des Klerikats, das der Oberhofprediger und Darmstädter Konsistorialrat Johann August Starck (1741-1816) geschaffen hatte und eine besondere, geistliche (klerikale) Richtung der neotemplerischen Hochgradfreimaurerei vertrat.
Das System der Strikten Observanz band die ihr unterworfenen Freimaurerlogen in ein straffes Herrschaftssystem ein, das die einzelnen Brüder zu ,unbedingtem striktem Gehorsam ( strictam observantiam ) gegenüber den Unbekannten Oberen" verpflichtete.16 Dennoch war das System offenbar für viele attraktiv - zum Teil wegen der klingenden Ritternamen und Titeln, welche die Brüder erhielten, zum Teil aber möglicherweise gerade wegen der straffen Führung und des damit verbundenen großen Anspruchs des Ordens als altehrwürdige Organisation, der sich aus den Mythen der Templerlegende speiste. Als eben diese mystischen Grundlagen jedoch auf dem Wilhelmsbadener Freimaurerkonvent 1782 zerfielen und die Fälschungen von Hunds enttarnt wurden, war die große Zeit der templerischen Freimaurerei in Deutschland zu Ende. Erst Ende des 19. Jahrhunderts kam es mit der Gründung des Ordo Templi Orientis wieder zu einer freimaurerähnlichen Ordensgründung mit Bezug auf die Templer, die jedoch ein anderes Gesicht trug und bei weitem nicht den Einfluß der Strikten Observanz und des Klerikats erlangte.17
Der Niedergang der Strikten Observanz und des Klerikats kam einer anderen Gesellschaft zugute; einer Gesellschaft, die nun nicht mehr das Erbe der Tempelritter, sondern das der Rosenkreuzer anzutreten vorgab: dem Orden der Gold- und Rosenkreuzer.
1. Binder: Die diskrete Gesellschaft, listet auf S. 10 über 39 verschiedene Angaben über den Ursprung der Freimaurerei aus 206 freimaurerischen Werken auf, die ein französischer Maurer um die Jahrhunderwende zusammengestellt hatte. Besonders beliebte Anknüpfungspunkte der Entstehungslegenden sind König Salomo und sein Tempelbau, das alte Ägypten mit seinen Pyramiden und Mysterien sowie der einst so mächtige Templerorden.
4. Elias Ashmole (1617-1692), berühmter englischer Gelehrter und einer der ersten nachweisbaren ,Angenommene Maurer" wurde (nach seinen Tagebuchaufzeichnungen) am 16. 10. 1646 in Warrington in eine Loge aufgenommen (vgl. die Abbildung bei Miers: Lexikon, 75). Er war Mitglied der Royal Society, sowie u. a. Herausgeber des alchemistischen Sammelbandes , Theatrum Chymicum Britannicum ". Seit Nicolai (1783) wird er oft mit den Rosenkreuzern in Verbindung gebracht, wobei z. T. seine Freimaurerloge mit einer Rosenkreuzerorganisation gleichgesetzt wird. A. E. Waite hat die Unhaltbarkeit dieser Legenden nachgewiesen (The Brotherhood of the Rosy Cross, 365-372).
8. Ähnliche Rosenkreuzergrade finden sich auch in anderen Hochgradsystemen, z. B. auch später als 38. Grad im Memphis-Misraim-Ritus John Yarkers.
9. Le Forestier, René: Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 1, Leimen 1987, 94.